Heute ist Steilküste angesagt. Also lieber nochmal ein herzhaftes Frühstück in der Pension mitnehmen und dann los. Ich hab mir vorgenommen, heute zwei Etappen zu laufen, denn bis Berriedale sind es meiner Beschreibung nach nur 14 km und bis Dunbeath noch einmal 10 km. Dass die Laufzeit mit 6 Stunden und nochmal 4,5 Stunden angegeben ist, ignoriere ich. Großer Fehler!
Steilküste laufen funktioniert folgendermaßen: Man geht irgendwo steil hoch, um dann in einer Schlucht wieder steil runterzuklettern, um einen Bach zu überqueren, der sich über Jahrtausende in den Berg gefressen hat. Dann geht es direkt steil wieder hoch und so weiter. Und das immer wieder.
Schon beim Losgehen scheint die Sonne und im Gegensatz zu gestern geht kaum Wind, sodass man schnell ins Schwitzen kommt. Leider ist bei der Beschaffenheit des Weges nicht daran zu denken, die Hose hochzukrempeln. Stechginster und Brennnesseln wachsen hier überall hüfthoch. Die Sonne der letzten Tage hat allerdings den Vorteil, dass man in dem morastigen Untergrund höchstens bis zum Knöchel und nicht die paar kritischen Zentimeter tiefer einsinkt.
Bei den Resten eines Brochs hole ich die zwei schottische Ladys ein, die ebenfalls den JoGT von Inverness laufen und von denen mir am Samstag schon Wanderer berichtet hatten.
Die erste Etappe ist heute ein bisschen wie beim Tough Mudder: Das Gelände ist sumpfig und ständig gibt es Hindernisse, die man überspringen oder überklettern muss.
Kurz vor den verstreuten Überresten etwa eines Dutzend Häuser, dem Ort Badbea, der während der Clearances im 18. Jahrhundert gegründet und 1900 vom letzten Einwohner aufgegeben wurde, trete ich zwischen Heide und Wollgras fast in ein Nest voller Eier. Erst im letzten Moment fliegt die Rebhuhnmutter vor mir auf und jagt mir mit ihrem Geschrei einen ordentlichen Schrecken ein. Ein Gedenkstein erinnert an die Bewohner der Siedlung.
Ich komme jetzt noch näher an die Küste. Zu meiner Rechten ist, soweit das Auge reicht, nur noch kobaltblaue Nordsee in der Sonne zu sehen.
Als ich den letzten Berg nach Berriedale herunterlaufe, treffe ich einen Schäfer mit Tabakpfeife und Hirtenstab, der hier arbeitet und mir einiges über sich und die Gegend erzählt.
Berriedale besteht aus ein paar Häusern, die hauptsächlich über einen langgezogenen Hügel entlang der serpentinenförmigen A9 verstreut sind. Am Wasser gibt es eine Burgruine, die jetzt über Hunderten von Möwen thront, die in den Felsvorsprüngen nisten.
Ich überquere ein Hängebrücke, die ziemlich schwankt und deren Verfallsdatum demnächst ablaufen müsste, esse ein paar Erdnüsse – es ist Mittagszeit – und mache mich dann auf den Weg Richtung Dunbeath, obwohl die Zehen am rechten Fuß trotz Blasenpflaster etwas verformt sind und schmerzen. Das ganze Rumgerutsche im Schuh, wenn es keine Wege, sondern ständig nur Schrägen und Hubbel gibt, hat den Füßen, die sich ja bisher mustergültig benommen haben, nicht sehr gut getan. Es gibt auch erste Zeichen von Materialermüdung. Ein Socken hat ein Loch und das Profil der Wanderschuhe ist an manchen Stellen völlig weggelaufen.
Hinter dem Ort geht es gleich wieder richtig hoch. Schwindelfrei zu sein ist hier besser, denn neben dem sehr schmalen Weg sind mitunter noch etwa fünf Zentimeter Gras und dann geht’s – Moment, kurzer Check auf dem Höhenmesser – 104 Meter in die Tiefe.
Jetzt beginnt die Sache wirklich unangenehm zu werden. Nach wie vor ist höchstens mal ein Trampelpfad zu erkennen, der sich auf der Wasserseite an Mauern und/oder einem Zaun entlang drückt, der die Schafe vorm Abstürzen schützt. Den Untergrund sieht man bei dem Bewuchs nie, was das Laufen nicht leichter macht. Ich komme nur sehr langsam voran, oft wirklich nur Schritt für Schritt. Dann ist mein Wasser alle.
Glücklicherweise ist die Straße gerade gar nicht so weit, ich lasse also den Rucksack liegen und laufe über ein Feld zum erstbesten Haus, das muss hier wohl Newport sein, und bekomme meine Flasche neu befüllt. Bei dem Abstecher wird mir erst so richtig klar, wie angenehm und schnell ich vorankommen würde, wenn ich auf der Straße liefe. Die A9, über die ich vorgestern noch geschimpft habe, ist plötzlich trotz Verkehr und fehlenden Randstreifen sehr attraktiv.
Aber ich gebe noch nicht auf, obwohl mein rechter Fuß inzwischen deutlich wehtut und die Beine auch bleischwer sind. Es geht einen weiteren Abhang hinunter zu einem Bach, der kleine Gumpen bildet, sodass ich es nicht bleiben lassen kann, mich hier zu erfrischen. Als ich auf der anderen Seite die Böschung wieder erklommen habe, klebe ich aber schon wieder genau wie vorher. Aber so anstrengend es auch ist, die Aussicht ist immer wieder traumhaft. Herrlich kriggelige Küste. Felsen mit Tausenden Möwen, die nicht nur einen Riesenlärm machen, sondern trotz guter Belüftung hier auch stinken.
Leider sind die Schafe, die sich mit mir den wenigen Platz auf den Klippen teilen, extrem unentspannt und rennen mit ihren Lämmern immer panisch weg, wenn sie mich kommen sehen. So treibe ich zeitweise eine Herde Schafe im Gänsemarsch vor mir her und habe ständig Angst, dass eines bei den Kamikaze-Sprüngen, die sie vollführen, ins Meer stürzt.
Ist mal etwas mehr Platz, bilden sich Blumenmeere. Das ist wunderschön, aber den Weg macht es nicht besser. Da, wo es jenseits der Mauer gar keinen Platz zum Laufen gibt, muss man innerhalb der Felder gehen, was zur Folge hat, dass alle 100 Meter ein Zaun oder eine Mauer oder beides zu überwinden sind. Auch das kostet Zeit und ist mühsam. So brauche ich für die ersten 5 oder 6 km hinter Berriedale 4 Stunden. Und dann endlich endlich geht es zurück an die Straße und die letzten Kilometer über gut begehbare Feldwege.
Völlig erledigt erreiche ich etwas humpelnd Dunbeath, durchquere das Tal, in dem der Ort liegt – der Laden hat leider bereits geschlossen – und suche mir den Weg zu einem kleinen Campingplatz, den es hier glücklicherweise gibt. Zelt ist kein Problem, aber ich habe keine Energie mehr, noch auf irgend einer Weide nach einem geeigneten Platz für das Zelt zu suchen und heute brauche ich eine warme Dusche.
Ein wenig gruselig wird es noch, als plötzlich eine Nebelwand vom Meer herüber weht und zwischenzeitig die Landschaft verschluckt, doch dann erscheint die Sonne wieder und guckt mir beim Kochen und Blogschreiben zu.
Ich bin mir unsicher, was ich morgen machen soll. Aber jetzt erstmal schlafen.
☀– 27,5 km – 930 Hm – 4,3 km/h